12. Dezember 2021 – Eine Keule entschärfen


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"Mein Kind ist das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe", sagt der sympathische Mann um die 40, mit dem ich gerade ein angeregtes Gespräch führe.
Er ist der erste Mann, dem ich auf den Kopf zusage, dass dieser Satz für die meisten OK-Menschen eine ziemliche Keule ist.

Obwohl ich heute froh darum bin, eine OK-Frau zu sein und beruflich sogar Frauen auf ihrem Weg begleite, mit dem Kinderwunsch (egal ob unerfüllt oder nicht vorhanden) Frieden zu schliessen, versetzt dieser Satz mir für einen kurzen Moment einen Stich. Warum ist das so?

Wenn ich ihn gesagt bekomme, kommt bei mir automatisch auch die Botschaft an, ich hätte in meinem Leben das Beste verpasst.
Oder ich würde ein Zweitklasseleben führen.
Oder nichts von dem, was ich tu, könne auch nur annähernd so wertvoll sein wie ein Kind zu bekommen und gross zu ziehen.
Und natürlich denke ich an alle, die unter der Kinderlosigkeit leiden und stelle mir vor, wie das für sie klingt.

Nachdem ich das diesem Mann erklärt habe, hält er inne, schaut mich an und sagt dann: "Ja, das verstehe ich."
Nur ganz kurz ringt er nach Worten, dann erklärt er, wie er das meint, wenn er diesen Satz sagt, der auf uns OK-Frauen oft wirkt, als würde damit alles abgewertet, was wir in unserem Leben jemals tun und erleben.

"Weisst du, das hat einfach eine ganz neue Dimension in mein Leben gebracht. Eine, die ich vorher nicht gekannt habe. Auch eine Emotionalität, die mir neu war.
Aber wenn wir jetzt keine Kinder gehabt hätten, dann hätten andere Lebensereignisse neue Dimensionen eröffnet."

Er staunt, dass wir OK-Frauen dazu neigen, diesen Satz so zu hören, als würde er behaupten, als OK-Mensch führe man ein Zweitklasseleben.
"Diese Haltung ist mir fremd; ich hätte mir für mich gut ein Leben ohne Kinder vorstellen können. Jetzt, wo ich diesen Weg gegangen bin, sehe ich, was er mir gebracht hat – nebst allen Entbehrungen. Aber ich könnte das doch genau so von etwas anderem sagen."

Und er verrät mir, welche andere Lebensereignisse ebenfalls zu derart beeindruckenden Meilensteinen hätten werden können. (Von denen er später hätte sagen können, das sei das Beste, was er jemals getan habe.)

Oft bricht ein Gespräch nach diesem Satz ab.
Weil ich mich in Frage gestellt oder verletzt fühle und dann zurückziehe.
Wenn ich aber den Mut aufbringe, zu sagen, was für mich mit diesem Satz mitschwingt, und nachfrage, wie er gemeint ist, kann es sogar noch spannender werden.

Wichtig ist, dass ich dem anderen nicht unterstelle, er wolle mit dieser Aussage mein Leben oder meine Entscheidung abwerten – vorerst ist das ja nur meine Interpretation.
Stattdessen kann ich offen (und ohne Vorwurf) sagen, dass es so ankommen kann und ich auch einen Teil in mir trage, der das so hört.

Ich kann auch fragen, was er damit genau meint, welche Anteile für ihn so wertvoll sind. Und erfahre dabei vielleicht, dass es Dinge sind, von denen ich auch ohne Kind genug in meinem Leben habe (wie in diesem Fall: Emotionalität und neue Dimensionen).

Und ich kann meine "das Beste in meinem Leben" mit ihm teilen.
Bei mir gibt es inzwischen mehrere solche Highlights, für dich ich unsäglich dankbar bin.

Wie ist das bei dir: Weisst du die Meilensteine in deinem Leben zu schätzen? Und wie reagierst du darauf, wenn jemand diesen Satz zu dir sagt?
Magst du vielleicht demnächst einmal ausprobieren, was geschieht, wenn du auf eine neue Art darauf eingehst?

Indem du dich zuerst daran erinnerst, dass dein Gegenüber vermutlich weder dein Leben abwerten noch deine Entscheidung in Frage stellen, sonder einfach etwas von sich erzählen will.
Wenn du zweifelst, ob das tatsächlich so ist, kannst du natürlich nachfragen.
Das tust du am besten bevor du dich rechtfertigst oder zurück zuschlägst; das bedeutet dann auch mit einer offenen, vorwurfsfreien Haltung.


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Bin bewegt:)       2021-12-29
Hallo,
Ich bin Anja und ich bin 39 Jahre alt. Dieser Blogbeitrag beschreibt meine Gefühle so gut. Ich bin eine von den "etwas dazwischen Frauen". Besonders die Erkenntnis, dass es bereits mehr als genug Emotionalität und Dimension in einem Leben ohne Kinder geben kann, hat mich sehr berührt. Ich bin Therapeutin für Kinder und Jugendliche und habe lange in einem Kinderheim gearbeitet. Ich bin, so glaube ich zumindest, sehr gefühlsstark. In meinem Leben gibt es wahnsinnig viel Emotionalität (die ich beruflich gut händeln kann) und ich glaube nicht, dass ich diese noch unbedingt steigern möchte. Das hat mich wirklich bewegt und ich habe mich so wiedererkannt. Ich danke Dir!
Anja, 39

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